>>In der Definition des eigenen Verhältnisses vor allem zur Französischen Revolution und zu deren Leitideen, insbesondere der Freiheit und der Gleichheit, in minderem Maße aber auch in der eigenen Positionierung zur englischen und zur amerikanischen Revolution, kristallisierte sich in Europa der bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkungsmächtige Rivale des intellektuell wie realpolitisch so erfolgreichen Liberalismus heraus. Das war der Konservatismus.
Er war aber nicht nur eine Reaktion auf die revolutionären Umwälzungen zumal in Frankreich, nicht bloß eine Ablehnung des dortigen Geschehens und eine – oft radikale – Verneinung von dessen tragenden Ideen. Von derartigen „reaktionären“ Denken unterschied sich konservatives Denken in der Regel darin, dass es die Errungenschaften gesicherter Staatlichkeit und gemäßigter Regierungsweise unbedingt bewahren wollte, doch unabweisbare Anpassungen und Modernisierungen – voller Skepsis gegenüber utopischen Visionen – unter der Voraussetzung akzeptierte, dass sie vorsichtig und mit Augenmaß vorgenommen wurden. Im Hintergrund solchen Denkens stand meist das Bild einer „natürlichen Ordnung“, die durch gegliederte Vielfalt, stabile Hierarchie und kleine Entwicklungsschritte gekennzeichnet sei, und die in alledem auch der sozialen sowie politischen Ordnung als Vorbild dienen könne. In solcher Weise vom Ansatz her liberales Gedankengut mit einer utopiekritischen Grundeinstellung verbindend, und deshalb die Französische Revolution samt ihren rationalistisch-individualistischen Leitideen ablehnend, wurden Edmund Burke (1729-1797) in England, Francois Chateaubriand (1768-1848) in Frankreich, später in Deutschland Friedrich Julius Stahl (1802-1861), zu Stamm- und Übervätern des politischen Konservatismus. Diesen macht das Beharren auf Realismus und Skepsis seither zum Widerlager aller utopisch inspirierten politischen Theorien.
Zu jenen gesellte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als gemeinsamer Gegner von Liberalismus und Konservatismus der – ganz wesentlich von Karl Marx und Friedrich Engels geprägte – Sozialismus bzw. Kommunismus. Als theoretische Grundlage der sozialistischen Parteien und später der realsozialistischen Staaten wurde er in seinen Ausprägungen als Marxismus-Leninismus, als Stalinismus sowie als Maoismus im 20. Jahrhundert zu einer der gestaltungsmächtigsten politischen Theorien, die es je gab. Wie auch immer im Einzelnen ausgeformt, erlebte diese Theorie in der europäischen Politikwissenschaft der 1970er Jahre sogar eine zweite, doch eher akademische Blüte. Und mit liberalen Ideen vielfach ausgesöhnt, wurden vom Sozialismus des 19. Jahrhundert, sogar bis über die Schwelle des 21. Jahrhunderts hinaus, zur Grundlage des Regierungshandelns vieler Staaten in West-, Süd- und Nordeuropa. Der orthodoxe Marxismus-Leninismus hingegen versank mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staatenwelt nach 1989/90 in die Bedeutungslosigkeit, wenngleich er – in chinesisch-asiatische Traditionen eingebettet – als Selbstdarstellungsdoktrin in China oder Nordkorea fortlebt.
Im Zusammenhang der – oft machtpolitisch stillgelegten – wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Modernisierungskrisen des 19. Jahrhunderts entstanden in mehreren europäischen Staaten außerdem stark autoritäre politische Theorien, meist aus reaktionären, oft aber auch aus konservativen Wurzeln, die sich an der Gegnerschaft zunächst zum Liberalismus, sodann zum Sozialismus bzw. Kommunismus aufrankten. Solchen Mustern politischen Denkens gesellte sich nicht selten – und zumal im deutschen Sprach- und Kulturraum – ständestaatliches, normativ-geopolitisches und sozialdarwinistisch-rassistisches Gedankengut hinzu. Angesichts der Krise der europäischen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg wurden solche autoritären politischen Theorien als „Faschismen“ über viele Jahrzehnte wirkungsmächtig, in Spanien sogar bis zur Mitte der 1970er Jahre. Unter den europäischen Faschismen tat sich dabei der deutsche Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 an der Macht, durch sein neuheidnisches Ausscheren aus allen humanen Spuren europäischer Kulturgeschichte, durch seinen radikalen Rassismus, seine amoralische Aggressivität, seinen technischen Perfektionismus, seine verbrecherische Effizienz und seinen letztlich nihilistischen Fanatismus in einzigartiger Weise hervor. Ihn niederzuringen, führte zu einem machtpolitisch vernünftigen und weltanschaulich höchst absonderlichen Bündnis von liberalen Staaten mit der stalinistischen Sowjetunion. Nach dem Auseinanderbrechen dieser Allianz wurde im westlichen Teil Europas mehr und mehr der US-amerikanische Liberalismus zur dominanten politischen Theorie. Ihr schlossen sich die – den Realsozialismus zunächst scharf zurückweisenden und zeitweise von Karl Poppers (1902-1994) Sozialphilosophie sehr beeindruckten – sozialdemokratischen Bewegungen Europas bis zu jener Grenze an, welche immer wieder ihre Weltanschauung zog, die ihrerseits auf einen starken Staat und auf eine weitgehend gewerkschaftlich mitbestimmte Wirtschaft setzte.<< [Werner J. Patzelt; Politikwissenschaft; 1. Auflage 2023]