>>Nach dem Ende der europäischen Religions- und Bürgerkriege waren […] die Voraussetzungen des modernen Staates geschaffen. In dessen – über Jahrzehnte allmählich gefestigtem Gehäuse – wurde eine folgenreiche Verschiebung der Prioritäten systematischen politischen Denkens möglich. Denn nicht nur stabil und wirksam sollte fortan die politische Ordnung sein, sondern auch noch in sich vernünftig sowie vernunftbegabten Menschen gemäß. Zu wichtigen Themen der – in Deutschland etwa von Christian Wolf (1679-1754) und Immanuel Kant (1724-1804) vertretenen – politischen Theorie der Aufklärung wurden deshalb Naturrecht und Bürgertugend, Autonomie des Einzelnen und Toleranz seitens des Staates, ferner Rechtsstaatlichkeit und rationale Verwaltungsführung, obendrein Gewaltenteilung und Republikanismus. Tatsächlich wandelte sich vielerorts der Absolutismus zum aufgeklärten Absolutismus, und zwar nicht herrschaftstechnisch, sondern auch auf der Ebene systematischen und normativen politischen Denkens der den Staat tragenden aristokratischen und bürgerlichen Eliten.
Angesichts all dessen konnte es zu einem vorrangigen Anliegen politischen Denkens werden, die in neu gewonnener Stabilität etablierten Herrschaftsformen vergleichend von ihren vielfältigen natürlichen und soziomoralischen Voraussetzungen zu verstehen, um auf diese Weise die institutionellen Möglichkeiten einer vernünftigen, gemäßigten Regierungsweise („gouvernement modéré) ausfindig zu machen. Diesem Thema widmete sich folgenreich etwa der Baron Charles-Louis de Secondat, genannt Montesquieu (1689-1755). Seine Ideen der Gewaltenteilung und zur Sicherung eines freiheitlichen Regimes, ganz wesentlich auch die ähnlichen Gedanken von John Locke, wie sie später John Stuart Mill (1806-1873) entschieden weiterführte, wurden zu den Grundlagen des – der Aufklärung entsprossenen – Liberalismus. Zu dessen wichtigsten Vertretern zählten in Deutschland Wilhelm v. Humboldt (1767-1835), Carl v. Rotteck (1775-1840) und Karl Theodor Welcker (1790-1869). In der „liberalen Staatslehre“ finden sich seine zentralen, bis heute wirkungsmächtigen Ideen im Einzelnen ausgearbeitet.
Schon vor dem europäischen Siegeszug des Liberalismus, der Deutschland nach der nicht umfassend gelungenen Revolution von 1848/49 aber ziemlich aussparte, wurden dessen Ideen zur wichtigen Inspiration für Anführer der amerikanischen Revolution und die Väter der US-Verfassung. Auf Grundlage solcher Ideen formulierten 1787/88 drei Amerikaner in der Debatte um die neu zu schaffende US-Verfassung in einer Reihe von Zeitungsartikeln – heute „Federalist Papers“ genannt – jene Grundgedanken des US-Verfassungsdenkens und liberalen Staatsverständnisses, die das amerikanische politische Denken um – als normativer Untergrund – die amerikanische Politikwissenschaft bis heute prägen. Über die seit Jahrzehnten währende internationale Dominanz der letzteren, und mehr noch durch die vielfache Vorbildrolle der US-Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde dieses Staats- und Verfassungsverständnis weltweit beispielgebend sowie einflussreich. Lange zuvor schon hatte es nachhaltig auf den europäischen Kontinent zurückgewirkt, wo doch auch die Wurzeln solcher Ideen lagen. Insbesondere Alexis de Tocqueville (1806-1873) wurde zum einflussreichen Theoretiker sowohl der Chancen wie auch der Gefährdungen einer – erstmals in den USA – für eine Massengesellschaft etablierten Demokratie. Persönliche Freiheit zu sichern, Demokratie aufzubauen und dabei eine Diktatur der Mehrheit zu verhindern: Zu diesen überaus anspruchsvollen Zielen war bis ins 19. Jahrhundert ein politische Denken vorgedrungen, das bei Bodin und Hobbes zwei Jahrhunderte vorher als Ringen um wenigstens die Stabilität einer Herrschaftsordnung begonnen hatte.
Zwar ebenfalls demokratische, unmittelbar der Aufklärungsphilosophie verpflichtete, doch alles andere als liberale Leitgedanken legte Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) seinem einflussreichen Werk und – über dessen Wirkungsgeschichte – auch der Französischen Revolution zugrunde. Rousseau ginge es um politische Freiheit auf der Grundlage einer – durch einen Gesellschaftsvertrag – künftig zu verwirklichenden Gleichheit, auf der Basis von identitärer Demokratie, sowie auf dem Fundament der immer wieder gelingenden Schaffung eines von allen Partikularinteressen gereinigten Gemeinwillens („volonté générale“ vs. „volontés particulières“). Das war ein rasch in den Bereich politischer Utopie führendes Projekt. Politische Utopien sind Fiktionen von Gesellschaften und politischen Systemen, die ihrer eigenen Zeit und deren Leitideen eine als besser behauptete Alternative gegenüberstellen und, von dieser geleitet, Systemkritik leisten sowie zum Engagement für besserndes politisches Handeln aufrufen. In dieser Hinsicht gehören zu Rousseaus großen Vorläufern Thomas Morus (1477-1535) und Tommaso Campanella (1568-1639), zu seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert vor allem die Theoretiker des Anarchismus (etwa Pierre-Joseph Proudhon, 1809-1865, und Michail A. Bakunin, 1814-1876) sowie die Autoren des Sozialismus und Kommunismus (vor allem Karl Marx, 1818-1883, und Friedrich Engels, 1820-1895).
Nicht wenige politische Theorien, zumal utopischen Anspruchs und im Bannkreis sozialistischen Denkens, haben seit der Französischen Revolution unter dem Banner einer Vorstellung von Demokratie, die auf eine Identität von Regierten und Regierenden, von Volk und Führern, von Massen und Avantgarde setzte, mehr oder minder offen an Rousseaus Denkfiguren angeknüpft, haben dabei alle Zweifel an der normativen Brauchbarkeit ihrer Leitideen subjektiv zurückgewiesen und objektiv bestätigt, und haben – aufgrund des Antiliberalismus eines solchen Selbst- und Sendungsbewusstseins – diktatorischen Regimen Vorschub geleistet. Im 20. Jahrhundert hat solches politisches Denken, entfaltet vor allem als Real- und Nationalsozialismus, wichtige und bevölkerungsstarke Staaten zum Totalitarismus verführt. Das geschah umso leichter, je mehr eine alltagspraktisch-idealistische Begeisterung für das „eigentlich Gute“ sich auf philosophische und wissenschaftliche Lehrmeinungen berufen konnte, die in „objektiven Ideen“ das „politisch unzweifelhaft Gute“ geborgen sahen, oder welche die Doppelgeschichte von politischem Denken und politischer Strukturbildung als Geschichte der „Entfaltung eines objektiv richtigen Welt- und Entwicklungsprinzips“ ausgaben, und die – so motiviert – in konkreten oder „konkret utopischen“ Staatswesen die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ oder die „objektiv höchstentwickelte Form politischer Ordnung“ verwirklicht glaubten. Solche unmittelbar zur Identifikation einladenden Denkfiguren des „Deutschen Idealismus“ (politisch folgenreich formuliert vor allem von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831) konnte man anschließend – wie von Karl Marx und Friedrich Engels geschichtsmächtig unternommen – „vom Kopf auf die Füße“ stellen. Damit war für säkularisierte, philosophisch-materialistische Gruppen politischer Aktivisten und für ganze Gesellschaften eine politische Theorie „guter Ordnung“ geschaffen, die an idealistischer Begeisterungskraft und an einer Attraktivität, die im Lauf der abendländischen Ideen- und Politikgeschichte immer schon die Religion als „politische Religion“ gespielt hatte.<< [Werner J. Patzelt; Politikwissenschaft; 1. Auflage 2023]